Kreativität

Konsum kills Kreativität sagt die Wissenschaft. Aber es funktioniert auch andersherum!
Wie weniger Zeug schöpferisches Denken fördert.


Auf die Frage, wie aus Curitiba die grüne Metropole Brasiliens und die „innovativste Stadt der Welt“[1] wurde, antwortet Jaime Lerner – ihr damaliger Bürgermeister sowie Architekt und Stadtplaner: “If you want creativity, cut one zero from your budget.” Zu Deutsch: Willst Du Kreativität, streiche eine Null aus Deinem Budget.

Die Aussage klingt zunächst kontraintuitiv: Kann man sich nicht erst so richtig kreativ austoben, wenn alle Freiheiten und Möglichkeiten zur Verfügung stehen? Nein, sagt die Wissenschaft – es verhält sich genau umgekehrt. Und sie können es beweisen.

think outside the box

Denn die Forscher der Johns Hopkins Carey Business School und der University of Illinois haben den Einfluss von „viel haben“ und „wenig haben“ auf die Kreativität untersucht. [2]Neue Erfindungen und Innovationen sind ein Produkt von Kreativität. Wie wirkt sich also eine Geisteshaltung des materiellen Überflusses auf die Kreativität aus?“ fragt Ravi Mehta, Hauptautor der Studie, und betont dabei, dass es nicht die Sättigung aller Bedürfnisse, sondern die Kreativität ist, die die Gesellschaft vorantreibt. [3]

Speziell untersucht wurde, wie Verbraucher Produkte benutzen, wenn sie viele oder wenige Ressourcen zur Verfügung haben. Gibt es in unserer produktübersättigten Welt noch Anreize, Bestehendes auf kreative Art und Weise maximal aus- oder umzunutzen?

Das Ergebnis der Studie verneint diese Annahme: Ein Überfluss an Ressourcen kann Kreativität tatsächlich negativ beeinflussen. Und umgekehrt: wer weniger Ressourcen zur Verfügung hat, nutzt diese kreativer.

Warum ist das so? Ausschlaggebend dabei ist, was die Autoren der Studie „constraint mindset“ nennen – übersetzt etwa „Geisteshaltung der Einschränkung“ – eine Denkweise, die durch „wenig haben“ aktiviert wird und sich dann verstetigt. Dabei reduziert sich die funktionale Gebundenheit eines Produkts. Das „constraint mindset“ bewirkt, dass der entsprechende Konsument über die traditionelle Funktionsweise bzw. den zugeschriebenen Zweck eines Produktes hinaus denkt. Das klingt kompliziert? Im gute:gründe-Adventskalender haben wir zufällig noch eine Illustration gefunden, die das etwas anschaulicher skizziert:

Kreativität

In der Konsequenz führt dies dann zu erhöhter Kreativität bei der Produktnutzung. Je größer das „constraint mindset“, desto kreativer wird die entsprechende Person ihre Ressourcen nutzen. [4] Einfach und kurz: Weniger Zeug führt zu mehr Kreativität.

Nun stellt sich eine Frage im Umkehrschluss: Ist die westliche Gesellschaft an sich angesichts ihrer Produktübersättigung unkreativer geworden?

Kreativität ist messbar. Eine Möglichkeit dafür ist der Torrance-Test für kreatives Denken, entwickelt in den 1960er Jahren als schöpferisch orientierte Alternative zum IQ-Test. Vergleichbar mit dem IQ stiegen die Kreativitätswerte mit jeder Generation kontinuierlich an [5]Menschen wurden intelligenter und kreativer. Bis zum Jahre 1990, als sich die Wege zwischen den beiden Quotienten plötzlich trennten. Eine Auswertung [6] von knapp 300.000 Torrance-Tests von Kindern und Erwachsenen im Jahre 2010 ergab, dass die Werte für Kreativität – zumindest in der US-amerikanischen Bevölkerung – ab diesem Zeitpunkt kontinuierlich fielen. “Es ist sehr eindeutig und die Abnahme ist sehr signifikant”, sagt Kyung Hee Kim vom College of William & Mary, der Autor der Studie. [7] Besonders offensichtlich dabei ist der Kreativitätsrückgang bei jüngeren Kindern in den USA – vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse. Der Anreiz, die eigene Fantasie zu nutzen und sich etwas noch nie Dagewesenes auszudenken, schwindet mit dem schier endlosen Angebot vorgefertigter Ideen, die man einfach nur kaufen kann. Ravi Mehta, Autor der „constraint mindset“- Studie, sieht darin eine beunruhigende Entwicklung, gerade für kommende Generationen. Denn sei man einmal daran gewöhnt, nicht kreativ zu handeln, sondern passiver Konsument zu sein, scheint sich der „Kreativitätsmuskel“ abzubauen. Es besteht also Handlungsbedarf, der Muskel muss trainiert werden. Laut James C. Kaufman, Professor an der California State University, ist dies auch möglich. Entsprechende Programme haben den stärksten Effekt, wenn es sich nicht um einen Wochenend-Workshop handelt. Die Gehirnfunktion verbessert sich vielmehr, wenn sie in alltägliche Prozesse einbezogen werden. [8]

Zwar war es nie die Kernintention des Jahres ohne Zeug, ein Alltagstraining für mehr Kreativität zu sein, ein wunderbarer Nebeneffekt und ein weiteres Argument für’s Mitmachen ist es umso mehr. Also los! Raus aus der Rolle des funktionierenden Konsumenten und rein in die Zeit der kreativen Zeuglosigkeit! Finden wir heraus, wann und wo the magic of constraint brain happens. Im Übrigen geht es dabei doch um mehr, als das eigene Leben durch erweiterte schöpferische Denkweisen zu bereichern.

Alle Probleme um uns herum – persönliche, lokale, nationale und internationale – schreien nach kreativen Lösungen, die Welt braucht neue Ideen! In einer internationalen Umfrage des Weltwirschaftsforums [9] unter 18- bis 35-Jährigen wurden der Klimawandel und die Zerstörung natürlicher Ressourcen als die schlimmsten Probleme der Gegenwart angesehen. Und auch hier kann man sich Jaime Lerner zu Herzen nehmen – sein Zitat hat nämlich noch einen zweiten Teil: „Willst Du Nachhaltigkeit, streiche zwei Nullen.

global shapers

 

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